Schneesturm auf Long Island
Schattigen Auges löffelt man um etwa zehn Uhr vormittags den zerfallenen Blueberry Bran Muffin im Tee; gegen zwei Uhr mittags reicht man die Kreditkarte ein für Kaffee; man knöpft sich, ohne vorher den Reissverschluss zu betätigen, wundert sich über Zugluft; und knöpft dann auch noch schief.
Tage im Dunst in der City lassen drei Fake-Fur-umrahmte Kapuzenköpfe auf der siebten Avenue etwa gleichzeitig über die Frage stolpern:
Wie kommt eigentlich alle Welt auf den Gedanken, New Yorker Schnee sei irgendwie weiß -
und mietet sich folglich über die Feiertage in ortsansässige Hostels ein die aufgrund des ungebrochenen Runs Jahr für Jahr ganz sorgenfrei ihre Zimmerpreise von $25 auf $500 pro Nacht aufstufen können ohne dass sich deswegen einer mal am Kopp packt?
Liegt das vielleicht daran, dass Kälte das Denken behindert? Zumindest gilt solches für uns. Von Winterautomatismen geleitet, eilen wir von einer beheizten Heißgetränk'n'Variations-on-Rudolph-Einrichtung zur nächsten. Blöckeweise kämpfen wir uns durch den uns entgegenwehenden Graupelschauer und die aus den Straßen aufsteigenden Kanalisationsschwaden. Mach bitte ein letztes Foto von uns zweien am Times Square auf der Verkehrsinsel, auf der Björk Mitte der 1990er in einem ihrer Debut-Videos herumgehüpft ist. Und nimm den chemieblauen Regenschirm mit aufs Bild.
Dann kracht der Schirm und wir verabschieden ihn in die nächste Mülltonne.
Zwischen den grauen Avenues blinkt die 42. Straße neon, jenseits der knöcheltiefen Pfützen wollen wir eine vierte Person treffen. Die Taxen rauschen rechts links die siebte und den Broadway hoch runter in Nebellichtkolonnen. Die Graupen prasseln auf die Kapuzen und wir flüchten nächstbestens in die Toys'R'Us-Empfangshalle an der Ecke. Frontal direkt nach der spiegelspiegelnden Drehtür blitzt es recht freundlich, und die studentische Aushilfe mit der Kamera fragt, ob wir das Überraschungsfoto als Geschenk verpackt haben wollen.
Und da steht auch schon der Vierte im Bunde am Spiegelspiegelgeländer und faltet seinen Regenschirm, der ebenfalls dem Wetter nicht standgehalten hat. Wir begrüßen ihn in unserer schlotternden Runde, verlassen den Spielzeugladen ohne Überraschungsfoto, der Vierte wirft seinen Regenschirm fort und stürmt mit uns über die Land-Unter-Avenuendopplung zurück auf die andere Seite und ins Europa-Café.
Apropos Unter: Die Subway ist ungeachtet des irdischen Sturmtreibens nach wie vor wohltemperiert und humid. Hier könnte man Stunden verbringen, was viele Studenten der Musikhochschule Brooklyns mit ihren Synthie-Zithern auch tun. Wir splitten die Gruppe in Chinatown-Interessenten und Badeklamotteneinkäufer auf und landen wenig später auf der 14. Straße am Union Square, wo wir hochgeschlossenen Kragens in Sportgeschäfte verschwinden und wenig später mit einer Papptüte mehr in den Händen in die erstaunlich desolate Verfassung der Gullizuflüsse Manhattans hinausstolpern und auch prompt den nichtimprägnierten aber dafür neugekauften unglaublich wärmenden Schuh hineinsetzen.
Aber was macht all der Schauer, wenn man bald schon in den Meerwassern Mexikos schnorchelt? Und nochmal die Kreditkarte für Kaffee, diesmal zum Mitnehmen, so wie Kaffee auch gedacht ist - und mit neuem Schirm in Leopardenoptik zum Manhattan Campus eilen und die Puschels aufsetzen und die Kapuze drüber und die Handschuhe über die Sehnenscheidenentzündungsschiene und Musik ins Ohr stöpseln.
Wie ich auf dem Campus ankomme, ist es wieder dunkel geworden; ich wundere mich noch über die dunklen Flure im Gebäude und stiefele dennoch weiter in den zweiten Stock, zum letzten Mal für dieses Semester. Ich weiß ja, wo die Lichtschalter sind; ich logge mich kurz vor class in mein Postfach ein und finde eine Mail von meinem Professor, der heute morgen um zehn Uhr die heutige Sitzung abgesagt hat aufgrund des angekündigten Schneesturms auf Long Island.
Schneesturm?
Zur Versandzeit der Email saßen wir bereits im Zug Richtung City, mit dem Blueberry Muffin im Tee.
Und da war das Wetter auch noch in Ordnung, gleichwohl grau.
Aus den wieder dunklen Fluren wieder hinaus in die dunklen Straßen und zurück mit dem Zug über Jamaica nach Port Jefferson, stelle ich mit Blick aus dem Fenster fest, dass es während unserer Abwesenheit tatsächlich auf der Insel geschneit hat. Eine dünne Schicht von Flocken liegt auf den Gleisen, neben denen wir vorbeifahren. Und als der Zug die Endstation erreicht und man den inzwischen heizgetrockneten Schuh wieder auf Port Jeffersons heimatlichen Bahnsteig setzt, sinkt dieser in eine Wehe halbgefrorenen Schnees - und mit ihm das entsprechende Bein bis kurz vorm Knie.
Storchengleich macht sich die tütenbepackte Gestalt, nun perfekt ausgestattet für Mexikos Sonne, auf den beschwerlichen zweihundert-Meter-Weg vom Bahnhof bis nach Hause.
_vel - Dec 13, 21:31