November

Stünden meine ersten Pläne vom einsemestrigen Aufenthalt noch, würde ich jetzt wehmütig sagen November; Halbzeit. Andere Leute sagen das. Andere Leute sind meine Mitbewohner und meine Freundin in der City. Diese Menschen kaufen jetzt zusätzliche Koffer und denken schon in Wochen und nicht mehr in Monaten. Alle aber diskutieren wir Flugdaten nach Schottland, Florida, Mexico, Berlin Chicago Illinois.

November ist wetterlich immer noch recht umschwünglich. Die Fauna zeigt sich mittlerweile deutlich verfärbt, das Wetter schwingt von sturmähnlich zu spätsommerlich-sonnig zu verregnet-deutsch. Mit 6°C haben wir immerhin immer noch doppelt so hohe Temperaturen wies Ländle. Ha.

Novemberzeit ist Paperzeit. Geistig abwesende Mitstudenten bleiben nach den Abendseminaren bis 2, 3h nachts noch in ihren Offices zum Arbeiten. Miss Ahnungslos stolpert durch die Flure auf der Suche nach Konversation und bleibt an ihren eigenen Aufgabenzettelchen hängen. Da sind Seiten zu füllen, doch zunächst Mengen an Literatur sich anzueignen, und zwar genau solange, bis man den eigenen Punkt in der ganzen Geschichte vergessen hat und endlich bereit ist, standesgemäß zu reproduzieren.

Aus lauter Übermüdung oder auch aus Prokrastinationsgründen trifft man sich dann doch hin und wieder mal abends oder nachts oder auch frühmorgens für soziale Interaktion in Begleitung von Genussmitteln, doch die Gedanken sind immer da, wo man selber grad nicht sein will - in den noch nicht erledigten aber drängenden Aufgaben, in der eigenen unklaren Fragestellung, in der für Philosophen mit der Dauer ihrer Ausbildung zur Gewohnheit gewordenen Angst, die großen Denker und ihre Hauptwerke falsch zu interpretieren, dann wieder in den noch nicht erledigten Aufgaben die aber drängen, und wenn alles das Abwesendsein auch nicht mehr hilft, kommt man konversationell schließlich doch wieder auf die Flugdaten zurück. So what are YOU doing on Thanksgiving?

Das Research Project drängt, die Arbeit ist viel, die Nächte sind kühl und der Schlafsack hilft auch nicht. Immer ist was mit der Heizung, ganz egal das Land. Auch die Papphäuschen auf Long Island bilden da keine Ausnahme. Meine Vermieterin ist derzeit heiraten in Bangladesh. Das bedeutet, zwei Wochen niemand da, bei dem man sich über die Temperaturen der Innenräume beschweren kann. Die zweite Erkältungswelle ist mittlerweile so halbwegs wieder vorüber. Bei Gelegenheit eine Wärmflasche einkaufen.

Wenn sich schließlich in zwei Wochen die Mehrheit der Gemeinschaft in den jeweiligen Heimatsstaat zurückbegibt, um Truthähne zu tranchieren, bleibt hoffentlich etwas Zeit, alle die eigene Arbeit in trockene Tücher zu verstauen und gegen Anfang Dezember mit der erwarteten Presentation und dem according Paper aufzuwarten, bei alledem jedoch nicht auch noch die anderen Papers vergessen die für die anderen Seminare rufen ich hab vergessen, wieviele;

dann auch noch wartet ein Stapel deutscher liegengebliebener mitgenommener und wieder liegengebliebener Arbeit schweigend im Regal, während ich schon wieder Verhandlungen mit dem Auslandsbafögamt über die Verlängerung meines Bewilligungszeitraumes führe. Und kaum ist es Morgen, ist es bald auch schon wieder Abend und Schlafsackzeit und dann wieder Zeit, halb unterkühlt und mit Campinggefühl aufzuwachen. Für die Zeit neue Teesorten im Organic Grocery Store finden. Umckaloabo preisen. Immer unter der Decke bleiben. Das mit dem Sport vergessen.

Aber bunte Bäume allumher. Schöner November soweit.
wasserfrau - Nov 17, 06:24

Die Fremde tut deinem Schreiben sehr gut. Du schreibst sehr schön.
Und so spricht ja auch gar nichts gegens, R-Umziehen, Vagabundieren: Präsent ist man dann, wenn...

siam - Nov 17, 09:51

Danke liebe wasserfrau, für die Rückmeldung!
Übers Schreiben ließe sich derzeit viel sagen.
Bevor ich aber groß Worte verliere, sage ich einfach, dass ich selber gespannt bin, was für Sprachen sich hier noch auftun. - Vielleicht Erzählweisen.
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