Irgendwas stimmt hier nicht
Wenn Musiker so lange tot sind, dass sich aus dem möglicherweise noch irgendwo liegen gebliebenen unveröffentlichten Material auch wirklich gar nichts mehr an neuen Liedern zusammenschneiden lässt, bleibt als letzter Atemzug dem Management wahrscheinlich nur noch, der Stadt auf Plakatbahnen entgegenzuschreien, dass es jetzt endlich die langerwartete und noch nie veröffentlichte Home-DVD des legendären Unplugged In New York-Konzertes zu kaufen gibt.
Vielleicht für alle, die noch immer an Nirvana glauben - in den gehabten Corporate-Farben, mit den ocker-kupfernen Floralornamenten, mit dem verkappten Westernschriftzug, und auf einer exklusiv neugeschalteten Verkaufsplattform - vielleicht aber auch für die neue Generation des Grunge, wenn es sie denn tatsächlich geben sollte (außerhalb des H&M-Kataloges, meine ich). Vielleicht ein gängiger Schachzug heuterdings.
Ich gebe zu, dass mich o.a. Tapete dazu veranlasst hat, heute auf der 34. Straße stehen zu bleiben und das Fußvolk in seinem Stechschritt zu blockieren und während sie an mir herumstolpern wie einer der nicht von hier ist die Plakatwand zu lesen. Was ist das mit den alten Helden, denke ich mir, und höre aus dem Shoe Store nebenan Bob Marley singen und die engagierten jungen HipHop-Verkäufer gleich mit ihm. Gerade diese Woche druckte die universitätseigene Studentenzeitung Che Guevara auf ihrer Titelseite ab, diesmal allerdings nicht auf rotem Hintergrund, sondern der derzeitigen Mode entsprechend auf Blassoliv. Noch nicht tot, aber ebenfalls erstmalig auf Home-DVD erschienen, ist außerdem die "The Joshua Tree"-Tour von U2, wie es gleich neben Nirvana lautet.
Unter der Musik klebt die Literatur. Neuerscheinungen mit Lese-Events. Ich lese:
Laut Plakat handelt es sich bei dem Buch um die "humorvollen Memoiren" einer Suzan Hanala Stadner, Auschwitz-Überlebende der zweiten Generation. Die Gattung lasse sich beschreiben als Traumedy, was ein Kompositum aus Trauma und Comedy darstellt.
Ich kann mir nicht helfen, was der Buchtitel nun mit mir macht und hole stattdessen nur meine Kamera raus, die ich seit einem Monat nicht mehr mit hatte.
Auf dem Weg zur Penn Station denke ich darüber nach, ob das nun ein Beispiel für American Entertaining Anything Goes ist, oder ob wir in Deutschland bloß nach wie vor und immer noch ein verdammt nochmales Problem mit unserer Vergangenheit haben, wessen Resultat dann meine Wortlosigkeit wäre in der Präsenz eines solch undeutschen Umgangs mit der entsprechenden Thematik.
Ich könnte das Thema auch einfach wegschieben und zeitgenössischen RnB hören, überlege ich, als ich schließlich im Zug sitze. Ich finde es ja sowieso unnötig, jetzt selbst auch noch mit den hohl gewordenen Fragen anzufangen und hole bereits den mp3-Player raus, als ich schräg gegenüber von mir einen Typen wohlhabenden Habitus sitzen sehe, der in in ein Buch vertieft selbiges vor sich hochhält, sodass sein Lesegeschmack allgemein ansehbar. Der Umschlag ist bordeaux, den Titel verdeckt seine Hand und der Rest der Vorderseite wird ausgefüllt von einem schwarzen Hakenkreuz.
Für eine Weile hat es meine Aufmerksamkeit - wieder geht das Marketingkonzept voll auf.
Ich habe bisher noch keinen Sinn aus diesem Eindruck gemacht - wo nun genau der Fehler liegt - und kann für heute nur feststellen, dass ich verwirrt bin.
Gottseidank gibt es hier für solche Vorkommnisse bereits die entsprechende Kategorie.
_vel - Nov 16, 00:32
meine erste reaktion ist vergleichbar mit deiner. verblüffung, ratlosigkeit, dieses unbehagen, daß da jemand zu weit gegangen ist, das gefühl der oberflächlichen verharmlosung (merkwürdig, nicht? noch bevor man das buch gelesen hat, steht schon ein urteil da). dann aber habe ich mir die frage gestellt: sonst bist du doch auch nicht so zimperlich, was stört dich daran? ich versuchte mir vorzustellen, es gebe einen sketch im "flying circus", wo dieser satz fällt. und ich bemerkte, nein, hier hätte ich gar nichts dagegen, in diesem kontext, mit dem vielbeschworenen british humour hätte es mich amüsiert. aber warum? ist es dort nicht verharmlosend, oder doch, aber wenn nicht, warum nicht?
komme zu keinem ergebnis.
ein bisschen research brachte Folgendes zu Tage:
"Typisch amerikanisch" finde ich, dass sie alle ihre Probleme in Geldquellen umfunktioniert hat. Jetzt leitet sie Workshops, ist in der Drogenberatung tätig und arbeitet als Fitnesstrainerin. Aber das tut ja gar nichts zur Sache.
Dann wiederum hat auch sie zehn Jahre an diesem Buch geschrieben. The Village Voice bezeichnet den Titel als "offensive", wie ich später noch rausgefunden habe - es gibt also offensichtlich auch hier Diskussion (wobei ich vielleicht die größeren Zeitungen checken sollte).
Dann wieder kommt es mir außerordentlich daneben vor, einer Jüdin offensiveness gegen den Holocaust zu attestieren.
geschmacklos
aber hey, das marketingkonzept funktioniert: kontroverser titel, der betroffene in den magen tritt und die politisch korrekten "liberals of all nations" in eine diskussion wirft.
der titel bleibt im kopf hängen, fehlt nur noch, dass ich beim nächsten besuch im buchladen das buch aus dem regal greife, reinlese, und es am ende sogar kaufe ...
aber nein: DIESMAL NICHT,
denn: "irgendwas stimmt hier nicht".